Shen Wei
Chinese Sentiment



Pressetext / Press Release Chinese Sentiment



„Ich hatte nie eine Kamera angerührt, bevor ich im Jahr 2000 nach Amerika ging”, sagt Shen Wei. „In China gab es so etwas wir Fotokunst nicht. Wenn man in eine Galerie ging, sah man nur Gemälde. Fotokunst war für mich eine abstrakte Sache; ich wusste wirklich nichts über die Kunstwelt außerhalb Chinas.“ Shen wuchs in einer Künstlerfamilie auf; nicht nur seine Mutter, sondern auch Tante und Onkel arbeiteten als Künstler. Nachdem er die Mittelschule beendet hatte, besuchte er eine Berufsschule, die ihre Absolventen auf das Hotelfach vorbereitete. Er wurde dem Blue Sky Hotel zugewiesen, wo er als Kellner arbeitete. Dies war seine erste Erfahrung eines Lebens außerhalb der gewohnten Umgebung. „Die Hotelgäste kamen aus allen Teilen Chinas“, sagt er. „Ich betrachtete sie und fragte mich, wie wohl ihr Leben aussah.“ Er hasste die Arbeit im Blue Sky, doch der Hotelmanager bemerkte sein künstlerisches Talent und ließ ihn die Tafeln entwerfen, auf denen die Tagesgerichte bekanntgegeben wurden. „Solche Aufträge waren Fluchtmöglichkeiten“, sagt er. „Ich verwandte so viel Zeit darauf, wie es nur irgend ging.“ Nach mehr als zwei Jahren im Hotelfach schrieb Shen sich im Shanghai Light Industry College ein, wo er sich auf Verpackungsdesign spezialisierte. Anschließend arbeitete er für ein paar Jahre als Freiberufler, indem er die verschiedensten Aufträge übernahm, die während der späten Neunzigerjahre in China zu bekommen waren. „Ich entwarf eine ganze Reihe von Broschüren für die Polizei“, sagt er. „Wenn die Polizei neue Vorschriften für Schifffahrtsunternehmen einführte, druckten sie zehntausend Broschüren. Einige davon habe ich gestaltet.“ Er entwarf Plakate für die Pekinger Oper. Er gestaltete Einkaufstüten für das Peace Hotel. Er arbeitete für Coca-Cola und United Airlines. Er gestaltete einen Satz Unterteller für Trinkgläser, auf denen Karten von Shanghai aus jeweils unterschiedlichen Jahrzehnten zu sehen waren – aus den Zwanzigern, den Dreißigern, den Vierzigern des vorigen Jahrhunderts; immer wenn man seinen Drink bewegte, blickte man auf eine veränderte Stadt. Shen verdiente mit solchen Aufträgen gutes Geld, aber die Arbeit fühlte sich bedeutungslos an. „Ich machte Design als einen Job“, sagt er. „Ich war nicht mit der Seele bei der Sache.“ Im Jahre 2000 schrieb er sich im Minneapolis College of Art and Design ein, um Malerei zu studieren. Aber nachdem er eine Pflichteinführung in Fotografie besucht hatte, änderte er seine Pläne. „Ich belegte zwei Fotografie-Kurse und war von dem Medium so inspiriert, dass ich mich entschied, Photograph werden zu wollen.“ Im Laufe des folgenden Jahrzehnts lernte Shen fotografieren und etablierte sich in New York. Er reiste selten nach China und widmete seine ganze Kraft einer Serie von Fotografien, die die amerikanische Identität und Sexualität erkundeten. Am Ende gab er dem Projekt den Titel „Almost Naked“, und 2008 kehrte er nach China zurück und hielt an der Pekinger Volksuniversität einen Vortrag über seine Arbeit. Er erlebte diese Erfahrung als sehr verwirrend. „Es war sehr schwer für mich, die Dinge angemessen zu erklären, besonders die Photographie, weil ich alles in Englisch gelernt hatte“, sagt er. „Es fiel mir wirklich schwer, meine Arbeit auf Chinesisch zu erläutern. Und ich verlor mich beständig in dem, was ich sah, weil alles neu war.“ Shen begann, sich wieder länger in China aufzuhalten, fand wieder Anschluss an die Kultur des Landes und erschloss sich ein neues Vokabular, das es ihm ermöglichte, seine Kunst zu beschreiben. Er begann, die fotografischen Fähigkeiten, die er sich in den USA angeeignet hatte, auf sein Heimatland anzuwenden und machte Porträtaufnahmen in Provinzstädten wie Chengdu, Guilin und Wuhan. Dagegen fotografierte er selten in Shanghai und Peking, weil diese Städte schon so entwickelt waren. In den inneren Teilen des Landes, wo diese Transformation noch nicht abgeschlossen war, konnte er noch Spuren des China finden, an das er sich aus seiner Kindheit erinnerte. „Ich begann, auf alte Dinge zurückzublicken, auf Dinge, mit denen ich aufgewachsen war“, sagt Shen. „Dinge, die damals nicht sonderlich wichtig zu sein schienen.“ In Shes Buch sind so gut wie keine Autos zu sehen. Es kommen keine Fabriken und Fließbänder vor. Wir sehen keine riesigen Menschenmassen oder Szenen mit überwältigendem Straßenverkehr oder die militärartigen Gruppen uniformierter Arbeiter, die das Bild des Auslands auf das heutige China prägen. Ganz im Gegenteil – dies sind ruhige, persönliche Bilder, und sie transportieren oft eine Stimmung von frühem Morgen, von diesen dunstigen Stunden, in denen Chinesen sich traditionellerweise gerne im Freien aufhalten. Eine große Anzahl von Aufnahmen zeigt die private Seite öffentlicher Parks. Die Farbe Grün herrscht vor. Und überall ist Wasser zu sehen – Kanäle und Flüsse und Seen, die schiefergraue Oberfläche in einem etwas dunkleren Ton als der Himmel. Einst entfaltete sich das Leben chinesischer Städte eher auf und neben Wasserstraßen als auf Asphalt, und diese Zeit liegt noch nicht so lang zurück, als dass sich selbst ein erst dreißigjähriger Fotograf nicht mit nostalgischen Empfindungen an sie zurückerinnern könnte. Die Menschen auf diesen Fotografien sind oft als Einzelne porträtiert. Viele sind Fremde, denen Shen auf seinen Streifzügen durch die Städte begegnete und die sich einverstanden erklärten, für ihn zu posieren. Er porträtierte sie in ihren Behausungen und in ihrer nachbarschaftlichen Umgebung. In einer Anzahl von Bildern steht eine einzelne Person am Rande einer ausgedehnten Szenerie eines winterlichen Parks, eines stillen Sees, eines im Nebel liegenden Bergs. In diesen Bildern reicht die Empfindung der Vergangenheit weit tiefer als das Erinnerungsvermögen eines jungen Mannes. Sie schließen an die jahrtausendealte Tradition chinesischer Landschaftsmalerei an, mit ihrer perfekten Balance und ihren winzigen Figuren, die am Rande überwältigender Panoramen schwanken. In den Jahren, die Shen Wei in Amerika verbrachte, in Minneapolis und New York, kam ihm oft das Gedicht „Ruhige Nachtgedanken“ von Li Bai in den Sinn. Vor mehr als tausend Jahren entstanden, fängt das Gedicht das Heimweh des Autors in zwanzig Schriftzeichen ein. „Jedes Mal, wenn ich über dieses Gedicht nachdenke, denke ich an all diese chinesischen Gemälde der ‚Gelben Berge‘ mit den kleinen Menschen in den Bergen“, sagt Shen. „Es ist fast wie eine Traumvorstellung, so als lebe man in den alten Zeiten. Leute, die in den Bergen leben, die auf dem Wasser leben, die Wein trinken und Gedichte schreiben. Das ist eine Art Traum, mein Traum vom Leben. Ich denke oft, wenn es ein Zeitalter in der chinesischen Geschichte gibt, in das ich gerne zurückversetzt wäre, so wäre es die Zeit der Tang-Dynastie.“
Der Mond scheint hell vor meiner Bettstatt, so dass der Boden von Frost überzogen scheint. Hebe ich das Haupt, schaue ich den hellen Mond, Senke ich das Haupt, träume ich, zu Hause zu sein.

Peter Hessler


“I never touched a camera before I went to America in 2000,” says Shen Wei. “In China there was not such a thing as fine art photography. You went to a gallery and it was all paintings. It was an abstract thing to me; I really knew nothing about the art world outside of China.” Shen grew up in an artistic family; in addition to his mother, both his aunt and uncle worked as artists. But after middle school, Shen enrolled in a vocational school that specialized in hotel services. He was assigned to the Blue Sky Hotel, where he worked as a waiter. It was his first experience of life outside of the old neighborhood. “The people who stayed there came from all over China,” he says. “I would look at them and wonder what kind of lives they had.” He hated working at the Blue Sky, but a manager noticed his artistic talent and had him design the boards that advertized the daily dinner specials. “Those assignments were an escape,” he says. “I’d do it as slowly as I could.” After more than two years in hotel services, Shen attended Shanghai Light Industry College, where his specialty was packaging design. For a few years he worked as a freelancer, undertaking the motley assignments that were available in China during the late-1990s. “I designed a lot of catalogs for the police,” he says. “If the police came up with new regulations for shipping companies, they’d print ten thousand catalogs. I designed some of them.” He created posters for a Beijing Opera troupe. He designed shopping bags for the Peace Hotel. He worked for Coca-Cola and United Airlines. He created a set of drink coasters, each of which featured a map of Shanghai from a different decade – the 1920s, the 1930s, the 1940s; every time you moved your drink you saw a city transformed. The money was good, but the work never felt meaningful. “I did design as a job,” he says. “I didn’t put my soul into it.” In 2000, he enrolled at the Minneapolis College of Art and Design, where he hoped to become a painter. But his plans changed after he took a required introductory class in photography. “I took two photo classes, and I was so inspired by the medium that I decided I wanted to become a photographer.” Over the next decade, Shen learned photography and established himself in New York City. He rarely returned to China, and he dedicated his efforts to a series of photographs that explored identity and sexuality in America. He eventually entitled that project Almost Naked, and in 2008 he returned to China and gave a lecture about his work at People’s University in Beijing. He found the experience profoundly disorienting. “It was very hard for me to explain things, especially photography, because I had learned everything in English,” he says. “I had a hard time explaining it in Chinese. And I was constantly getting lost in what I was seeing, because everything was new.” Shen began making long trips to China, where he reconnected with the culture, learning a new vocabulary that allowed him to describe his art. And he began to apply the photographic skills that he had learned in America to his homeland, taking portraits in provincial cities like Chengdu, Guilin, and Wuhan. He rarely photographed Shanghai and Beijing, because they were already so developed. In the nation’s interior, where the transformation wasn’t yet complete, he could still find traces of the China he remembered from childhood. “I started to look back to old things, to things I grew up with,” Shen says. “Things that at the time didn’t seem so important.” There are almost no automobiles in this book. There aren’t any factories or assembly lines. We don’t see vast mobs of people, or overwhelming traffic scenes, or the army-like crews of uniformed workers that have become standard in the foreign imagery of today’s China. Instead, these are quiet, personal pictures, and they often have an early-morning feel, those hazy hours when Chinese people traditionally enjoy being outdoors. A large number of photographs feature the private side of public parks. Green is a common color. And water is everywhere – canals and rivers and lakes, the slate-gray surface a slightly deeper shade than the sky. There was a time when the life of Chinese cities revolved around waterways rather than roads, and it was recent enough that even a thirty-year-old photographer can recall it with nostalgia.  Often the people in these photographs are solitary. Many are strangers who agreed to pose for Shen as he passed through town, and he shot them in their homes and neighborhoods. In a number of pictures, an individual stands on the periphery of some expansive scene – a wintry park, a placid lake, a misty mountain. With these images, the sense of the past runs far deeper than a young man’s memory. It connects with the millennia-old tradition of Chinese landscape painting, where balance is perfect and tiny figures teeter at the edge of sweeping vistas. During Shen Wei’s years in America, living in Minneapolis and New York, he often recalled the Li Bai poem “Quiet Night Thoughts.” Written over a thousand years ago, the poem captures the author’s homesickness in twenty spare characters. “Every time I think about this poem, I think about all those Chinese paintings of the Yellow Mountains, with the little people in the mountains,” Shen says. “It’s almost like a fantasy, to live in the ancient times. People living in the mountains, living on the water, drinking wine and writing poetry. This is a kind of dream, my dream of life. I often think if there’s a dynasty in China I want to go back to, it’s the Tang dynasty.”
Before my bed there is bright moonlight so that it seems like frost on the ground: Lifting my head I watch the bright moon, lowering my head I dream that I’m home.

Peter Hessler

Shen Wei: Chinese Sentiment
Shen Wei: Chinese Sentiment



Shen Wei: Chinese Sentiment



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Shen Wei: Chinese Sentiment



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Shen Wei: Chinese Sentiment


Shen Wei: Chinese Sentiment
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